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Was ist eigentlich Rassismus?

Montag, 4. Juli 2011 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen

Hendrik Cremer

Die Diskussion zu Aussagen von Thi­lo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutsch­land eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.

«Deutschland schafft sich ab. Wie wir un­ser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommier­ten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsen­tation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und In­terviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrich­tenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung ex­klusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Ta­bus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sar­razin, seit über dreißig Jahren in der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deut­schen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öf­fentliche Ämter in Deutschland inne.

«Wir» und die «Anderen»

Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Mus­ter «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarra­zins Aussagen einher mit Thesen zur «gene­tischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Men­schen in einen Zusammenhang setzt.

Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter an­derem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzfor­schung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.

Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrekt­heit, um gleichzeitig rassistische Verbalatta­cken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, so­dass Menschen einfach nach Deutschland ein­wandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.

Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sach­lichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungs­system und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er belie­big auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Da­tenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaft­licher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwäh­nung.

Reaktionen auf Sarrazins Buch

Nach der Veröffentlichung des Buches wur­den Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienland­schaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, ka­men aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher di­rekt in die Hände: Die Reaktionen, die er aus­gelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.

Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausfüh­rungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Men­schenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodi­fizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesent­liche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwande­rungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unver­änderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschafts­ordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zu­vor allein rechtsextremen Parteien zugeord­net wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.

Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins The­sen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dum­me Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.

Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spu­ren und Wirkungen im öffentlichen und poli­tischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmati­sierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Reprä­sentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Ver­pflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertrags­staat der UN-Anti-Rassismus­-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegan­gen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konven­tion Verpflichtungen, Rassis­mus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entge­genzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Men­schenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft anneh­men, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und sei­nen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.

Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig

Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte soll­ten vor diesem Hintergrund zum Anlass ge­nommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Ver­ständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Ras­sismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassis­mus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Um­setzung der UN-Anti-Rassis­mus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbe­griff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 eben­so angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechts­rat vorgestellten Bericht über Deutschland.

Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgren­zungen und Diskriminierungen, die in demo­kratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbre­chen zur Zeit des Nationalsozialismus gleich­zusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextre­mismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich be­reits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Ver­ständnis von Rassismus ausmachen.

Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan ge­gen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämp­fung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.

Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet

Rassismus setzt kein Gedankengut vor­aus, das auf biologistischen Theorien von Ab­stammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschied­lichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argu­mentationsmuster der Gegen­wart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typi­scherweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unter­teilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebil­det werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zuge­schrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jewei­ligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als In­dividuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen je­denfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.

Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Men­schen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rück­griff auf ein Gedankengut, welches die geisti­ge Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudo­wissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landes­grenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrich­tenmagazin Spiegel im November 2010 deut­lich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.

Sarrazin, ein Rassist?

Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antwor­ten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht wei­ter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbe­deutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und ei­nen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sar­raziner») herausgegeben.

Die Sarrazin-Debatte hat besonders deut­lich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminie­rung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grund­satz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzu­erhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht wer­den können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rah­men der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrecht­liches Fundament zurückgeführt werden.

1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html

2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-

nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_

02_09_2010.pdf

Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte.

Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkann­te nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsver­letzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Men­schenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.

Was ist eigentlich Rassismus?

Hendrik Cremer

Die Diskussion zu Aussagen von Thi­lo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutsch­land eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.

«Deutschland schafft sich ab. Wie wir un­ser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommier­ten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsen­tation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und In­terviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrich­tenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung ex­klusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Ta­bus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sar­razin, seit über dreißig Jahren in der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deut­schen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öf­fentliche Ämter in Deutschland inne.

«Wir» und die «Anderen»

Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Mus­ter «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarra­zins Aussagen einher mit Thesen zur «gene­tischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Men­schen in einen Zusammenhang setzt.

Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter an­derem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzfor­schung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.

Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrekt­heit, um gleichzeitig rassistische Verbalatta­cken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, so­dass Menschen einfach nach Deutschland ein­wandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.

Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sach­lichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungs­system und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er belie­big auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Da­tenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaft­licher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwäh­nung.

Reaktionen auf Sarrazins Buch

Nach der Veröffentlichung des Buches wur­den Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienland­schaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, ka­men aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher di­rekt in die Hände: Die Reaktionen, die er aus­gelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.

Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausfüh­rungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Men­schenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodi­fizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesent­liche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwande­rungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unver­änderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschafts­ordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zu­vor allein rechtsextremen Parteien zugeord­net wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.

Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins The­sen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dum­me Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.

Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spu­ren und Wirkungen im öffentlichen und poli­tischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmati­sierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Reprä­sentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Ver­pflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertrags­staat der UN-Anti-Rassismus­-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegan­gen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konven­tion Verpflichtungen, Rassis­mus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entge­genzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Men­schenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft anneh­men, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und sei­nen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.

Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig

Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte soll­ten vor diesem Hintergrund zum Anlass ge­nommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Ver­ständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Ras­sismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassis­mus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Um­setzung der UN-Anti-Rassis­mus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbe­griff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 eben­so angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechts­rat vorgestellten Bericht über Deutschland.

Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgren­zungen und Diskriminierungen, die in demo­kratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbre­chen zur Zeit des Nationalsozialismus gleich­zusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextre­mismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich be­reits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Ver­ständnis von Rassismus ausmachen.

Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan ge­gen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämp­fung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.

Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet

Rassismus setzt kein Gedankengut vor­aus, das auf biologistischen Theorien von Ab­stammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschied­lichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argu­mentationsmuster der Gegen­wart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typi­scherweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unter­teilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebil­det werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zuge­schrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jewei­ligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als In­dividuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen je­denfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.

Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Men­schen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rück­griff auf ein Gedankengut, welches die geisti­ge Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudo­wissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landes­grenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrich­tenmagazin Spiegel im November 2010 deut­lich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.

Sarrazin, ein Rassist?

Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antwor­ten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht wei­ter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbe­deutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und ei­nen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sar­raziner») herausgegeben.

Die Sarrazin-Debatte hat besonders deut­lich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminie­rung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grund­satz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzu­erhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht wer­den können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rah­men der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrecht­liches Fundament zurückgeführt werden.

1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html

2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-

nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_

02_09_2010.pdf

Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrecht

Hendrik Cremer

Die Diskussion zu Aussagen von Thi­lo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutsch­land eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.

«Deutschland schafft sich ab. Wie wir un­ser Land aufs Spiel setzen» – so heißt der Titel eines Buches von Thilo Sarrazin, das in Deutschland im August 2010 im renommier­ten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsen­tation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Auftritte in Talkshows und In­terviews mit Sarrazin folgten. Bereits vor der Präsentation des Buches hatten das Nachrich­tenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung ex­klusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als «Realo-Politiker» und Provokateur präsentiert, der bestehende Ta­bus breche – insbesondere in der deutschen Integrations- und Zuwanderungspolitik. Sar­razin, seit über dreißig Jahren in der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deut­schen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öf­fentliche Ämter in Deutschland inne.

«Wir» und die «Anderen»

Sarrazin hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft in Deutschland nach dem Mus­ter «Wir» und die «Anderen» zu unterteilen. Innerhalb der «Anderen» bildet er weitere Untergruppen wie «Türken», «Araber» oder wahlweise «muslimische Migranten», deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Dabei gehen Sarra­zins Aussagen einher mit Thesen zur «gene­tischen Identität» eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der «Kultur» von Men­schen in einen Zusammenhang setzt.

Sarrazin nimmt in seinen Thesen unter an­derem Bezug auf Francis Galton (1822-1911), den er als «Vater der frühen Intelligenzfor­schung» bezeichnet. Dass Francis Galton als Begründer der modernen Eugenik gilt und rassistische Vererbungslehren vertreten hat, bleibt in seinem Buch hingegen unerwähnt.

Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin stets von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrekt­heit, um gleichzeitig rassistische Verbalatta­cken vorzunehmen. Zudem enthalten seine Aussagen diffuse, polemische und faktisch falsche Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, so­dass Menschen einfach nach Deutschland ein­wandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber mitnichten der Fall.

Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sach­lichkeit. Sarrazin manipuliert den Leser, etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungs­system und im Bereich der Beschäftigung einfach leugnet. Außerdem greift er belie­big auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie seiner Weltsicht entsprechen. Andere Interpretationsmöglichkeiten ignoriert er. Da­tenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaft­licher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwäh­nung.

Reaktionen auf Sarrazins Buch

Nach der Veröffentlichung des Buches wur­den Sarrazin und seine Thesen wochenlang zum Topthema in der deutschen Medienland­schaft. Nicht wenige Kommentatoren haben seine Diffamierungen zwar verurteilt, ka­men aber zum Schluss, dass Sarrazin im Kern die eigentlichen Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher di­rekt in die Hände: Die Reaktionen, die er aus­gelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen.

Dabei negiert Sarrazin in seinen Ausfüh­rungen und Grundaussagen fundamentale Prinzipien des Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Men­schenrechte: Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodi­fizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Wesent­liche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen, die er im Bereich der Zuwande­rungspolitik erhoben hat, liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unver­änderbaren Kerns des Grundgesetzes.1 Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschafts­ordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zu­vor allein rechtsextremen Parteien zugeord­net wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung.

Einige Medien und Kommentatoren sahen sogar in geäußerter Kritik an Sarrazins The­sen die Meinungsfreiheit in Frage gestellt. Diese Stoßrichtung der Debatte bezog sich unter anderem auf die Bundeskanzlerin, die Äußerungen Sarrazins als schlichte und dum­me Pauschalurteile gebrandmarkt hat, die äußerst verletzend und diffamierend seien.

Die Sarrazin-Debatte hat deutliche Spu­ren und Wirkungen im öffentlichen und poli­tischen Raum hinterlassen. Dazu gehört auch, dass einzelne staatliche Akteure im politischen Raum immer wieder die Stigmatisierung von Muslimen in Deutschland betreiben.2 Dabei stehen Stereotypisierungen und Stigmati­sierungen von Menschengruppen auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit, Kultur oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Reprä­sentanten im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Ver­pflichtungen Deutschlands. Insbesondere als Vertrags­staat der UN-Anti-Rassismus­-Konvention ist Deutschland Verpflichtungen eingegan­gen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Zudem enthält die Konven­tion Verpflichtungen, Rassis­mus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entge­genzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Men­schenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft anneh­men, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Dabei kommt der Politik, dem Staat und sei­nen Institutionen eine wichtige Funktion zu, indem sie Maßstäbe setzen.

Erweiterung des Verständnisses von Rassismus nötig

Die Erfahrungen der Sarrazin-Debatte soll­ten vor diesem Hintergrund zum Anlass ge­nommen werden, eine möglichst breite und zugleich sachliche Diskussion über das Ver­ständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. Die Sarrazin-Debatte hat schließlich deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. So werden in Deutschland mit dem Begriff «Rassismus» oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Ras­sismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassis­mus wurde in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen Rassismus, der die Um­setzung der UN-Anti-Rassis­mus-Konvention überprüft, hat Deutschland im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbe­griff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern. Gleiches hat die Europarat-Kommission gegen Rassismus im Jahre 2009 eben­so angemahnt wie der UN-Sonderberichterstatter gegen Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechts­rat vorgestellten Bericht über Deutschland.

Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgren­zungen und Diskriminierungen, die in demo­kratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbre­chen zur Zeit des Nationalsozialismus gleich­zusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf politisch organisierten Rechtsextre­mismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich be­reits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Ver­ständnis von Rassismus ausmachen.

Immerhin gibt es auf der politischen Ebene erste Anzeichen in diese Richtung. So hat etwa die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan ge­gen Rassismus von Oktober 2008 anerkannt, dass sich auch jenseits des rechtsextremistischen Lagers rassistische Ressentiments und Stereotype finden und dass sich die Bekämp­fung von Rassismus nicht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus erschöpft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt beziehen muss.

Rassismus im 21. Jahrhundert oft kulturalistisch begründet

Rassismus setzt kein Gedankengut vor­aus, das auf biologistischen Theorien von Ab­stammung und Vererbung basiert. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschied­lichen «Rassen» eingeteilt werden. Rassistische Argu­mentationsmuster der Gegen­wart verlaufen – wenn man so will – häufig versteckter. Typi­scherweise basieren sie auf Zuschreibungen auf Grund unterschiedlicher «Kulturen», «Nationen», «Ethnien» oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in «Wir» und die «Anderen» unter­teilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebil­det werden, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zuge­schrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jewei­ligen Menschengruppen sozusagen in ihnen «gefangen» gehalten und nicht mehr als In­dividuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen je­denfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.

Häufig wird Rassismus der Gegenwart kulturalistisch begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden. Dennoch wird die Dimension von Sarrazins Thesen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmässig hervorgehoben, dass er ja nicht von «Rassen» oder «Ethnien» spreche, sondern auf die «Kultur» von Men­schen Bezug nehme. Dabei nimmt Sarrazin mit seinen biologistischen Thesen sogar Rück­griff auf ein Gedankengut, welches die geisti­ge Grundlage des Nationalsozialismus bildete: die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen («Rassen») nach pseudo­wissenschaftlichen Kriterien. Nur damit lässt sich auch erklären, dass sich der wegen seiner antimuslimischen Rhetorik über die Landes­grenzen hinaus bekannte Niederländer Geert Wilders in einem Interview mit dem Nachrich­tenmagazin Spiegel im November 2010 deut­lich von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert hat.

Sarrazin, ein Rassist?

Nicht wenigen Kommentatoren in Deutschland bereitete die Einordnung von Sarrazins öffentlichen Aussagen in Interviews oder seinem Buch Schwierigkeiten. Sind seine Aussagen nun rassistisch oder nicht? Antwor­ten darauf wurden teilweise bei ihm selbst gesucht: «Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?» Diese Vorgehensweise führt indes nicht wei­ter. Bei der Frage, ob Aussagen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbe­deutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht. Die deutsche rechtsextreme Partei der Republikaner hat sich Sarrazins Thesen jedenfalls zu Eigen gemacht und ei­nen entsprechenden Slogan («Ich bin ein Sar­raziner») herausgegeben.

Die Sarrazin-Debatte hat besonders deut­lich gezeigt, dass Regierung und Parlament gefordert sind, Ausgrenzung und Diskriminie­rung aktiv entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grund­satz unserer Gesellschaftsordnung aufrechtzu­erhalten. Auch den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte und durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung gerecht wer­den können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der durch die Sarrazin-Debatte verschobene Rah­men der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder nachhaltig auf sein menschenrechtliches und verfassungsrecht­liches Fundament zurückgeführt werden.

1 Siehe dazu genauer http://www.institut-fuer-menschen-rechte.de/de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-menschenrechte-muessen-grundlage-der-debatte-um-in-tegration-und-zuwanderung-sein.html

2 Siehe dazu auch http://www.institut-fuer-menscri.en-rechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellung-

nahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin_

02_09_2010.pdf

Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte.

Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkann­te nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsver­letzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Men­schenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.

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Das Institut ist die von den Vereinten Nationen anerkann­te nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und trägt zur Prävention von Menschenrechtsver­letzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Men­schenrechte bei. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über Forschung und Politikberatung bis zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit.

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Thema: Staat Demokratie BürgerInnenrechte

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