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Sieg der Ökonomie über Demokratie und Rechtsstaat?

Dienstag, 21. Oktober 2014 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen

Das  transatlantische Freihandelsabkommen TTIP und die internationalen Schiedsgerichte der Weltbank

von Martin Kutscha

„Freihandel“, das klingt gut. Wer hätte etwas gegen mehr Freiheit, den Wegfall bürokratischer Handelshemmnisse und die Erleichterung weltweiten Güteraustausches? Gerade für die Exportnation Deutschland scheint das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (= Transatlantic Trade and Investment Partnership) nur Vorteile zu bringen. Dadurch sollen mehr Investitionen getätigt und 160.000 neue Jobs hierzulande geschaffen werden, so verspricht es die Bertelsmann-Stiftung.[1]

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Aber nicht nur gegenüber solchen Prognosen sind Zweifel angebracht. Häufig nützt der Wegfall von Handelsbeschränkungen nur den wirtschaftlich Mächtigen, während die Schwachen dabei auf der Strecke bleiben. Erinnert sei hier nur an das Schicksal der Kleinbauern in afrikanischen Staaten, die mit den hochsubventionierten Importen von billigem Fleisch aus den EU-Staaten nicht mithalten konnten und deshalb ihre berufliche Existenzgrundlage verloren – eine der Ursachen für das Flüchtlingselend an den Südgrenzen der „Festung Europa“. Es kommt hinzu, dass „Freihandel“ häufig den Abbau von regionalen bzw. staatlich festgesetzten Verbraucherschutzstandards bedeutet. Die in den USA produzierten „Chlorhähnchen“, die künftig auch die Konsument_innen in Europa beglücken sollen, sind hierfür nur ein Beispiel. Oder denken wir an den Import der Fleischprodukte von Tieren, die mit Gen-Mais oder Hormonen gefüttert wurden. Auch werden Datenschutzregeln, wie sie z. B. in Deutschland gelten, von US-amerikanischen Internetgiganten wie Google und Facebook schon lange als ärgerliches Hindernis bei der Herstellung umfassender Persönlichkeitsprofile empfunden.[2] Die geplante Datenschutzgrundverordnung der EU ist nicht zuletzt am Widerstand mächtiger Lobbygruppen wie der „Digital Trade Coalition“ gescheitert.

Was passiert, wenn ein Staat gegenüber mächtigen Global Playern auf der Einhaltung seiner strikten Standards im Verbraucher-, im Umwelt- oder im Arbeitsschutz beharrt? In diesem Fall könnte das betreffende Unternehmen gegen den betreffenden Staat klagen, weil diese Regeln seine Gewinnaussichten schmälern bzw. seine Investitionen in Frage stellen. Solche Verfahren würden allerdings nicht vor einem regulären staatlichen Gericht stattfinden, sondern vor einem internationalen Schiedsgericht, das sich aus „bewährten“ Wirtschaftsanwälten internationaler Großkanzleien zusammensetzt.

Problematische Schiedsgerichte

Schon jetzt agieren solche Schiedsgerichte unter der Bezeichnung ICSID (= International Centre for Settlement of Investment Disputes), einer Einrichtung der Weltbank.[3] Allein im Jahre 2012 fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit mindestens 172 solcher Verfahren gegen verschiedene Staaten statt.[4] So wurde u. a. der Staat Ecuador zu der bisher höchsten Schadensersatzsumme von 1, 76 Milliarden US-Dollar verurteilt, weil das Land die Ölförderverträge mit dem US-Konzern Occidental einseitig aufgekündigt hatte.[5] Unter anderem klagt der Tabakkonzern Philipp Morris derzeit gegen Australien wegen der strengen Werbebeschränkungen für Zigaretten.[6] Durch Medienberichte bekannt wurde die Klage des Konzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Entschädigung in Höhe von insgesamt 3, 7 Milliarden Euro wegen der Abschaltung der Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel im Jahre 2011.[7] Diese Klage wird derzeit als Druckmittel zur Durchsetzung der von den Energiekonzernen vorgeschlagenen „Stiftung“ zur Abwicklung der Atomkraftwerke in Deutschland eingesetzt: Nachdem diese Unternehmen viele Jahre lang mit dem Atomstrom Milliardengewinne eingefahren haben, sollen nun die unabsehbar hohen Kosten für den Abriss der AKWs und die Endlagerung des Atommülls sozialisiert, d. h. von den Bürgern und Bürgerinnen getragen werden.

Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob dieser besondere „Investitionsschutz“ für Großunternehmen und die Entscheidungen der internationalen Schiedsgerichte überhaupt die Bezeichnung „Recht“ verdienen. Der Rechtstheoretiker Friedrich Müller hat den Rechtscharakter eines solchen „De-facto-Weltrechts“ mit guten Gründen bestritten: Es sei „keine Rechtsordnung im bisherigen Sinn; nicht in dem Sinn, den Generationen der Menschenrechts-, der Rechtsstaats-, der Demokratie-, Arbeiter- oder Frauenbewegung unter Opfern erkämpft hatten. Es funktioniert ohne Staat, ohne zentrale Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit, unterhalb der Ebene normierter Institutionen und des positivierten demokratischen Rechts – zum Teil bereits als transnationale Privatjustiz, als transnationales ‚Recht des Stärkeren’.“[8]

Die intransparente Schiedsgerichtsbarkeit zum Schutz unternehmerischer Gewinninteressen negiert darüber hinaus auch den Geltungsanspruch elementarer Verfassungsprinzipien demokratischer Rechtsstaaten: Volkssouveränität beinhaltet danach auch das Recht der gewählten Verfassungsorgane, in die Wirtschaftsstruktur des jeweiligen Landes regulierend einzugreifen. Dementsprechend kennen weder die Europäische Menschenrechtskonvention[9] noch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einen absoluten Schutz des Eigentums, vielmehr obliegt es dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG „Inhalt und Schranken“ des Eigentums nach Gemeinwohlkriterien wie z. B. der Bedarfsdeckung für sozial Schwache (Sozialstaatsprinzip), der Gefahrenabwehr oder dem Schutz der Verbraucher_innen und der natürlichen Umwelt zu bestimmen. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem „Nassauskiesungsbeschluss“ vom 15. Juli 1981 verdeutlicht: „Aus der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Gesetze, die den Inhalt des Eigentums bestimmen, ergeben sich…Gegenstand und Umfang des durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Bestandsschutzes und damit auch, wann ein zur Entschädigung verpflichtender Rechtsentzug vorliegt.“[10] Bloße Gewinnerwartungen unterfallen ohnehin nicht dem verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz.[11]

Die Verurteilung von Staaten zu Schadensersatz an internationale Konzerne, denen Gewinnchancen entzogen wurden, auf der Grundlage der Investitionsschutzabkommen bedeutet mithin nicht nur eine Abkehr von der herkömmlichen Dogmatik des grundrechtlichen Eigentumsschutzes, sondern auch eine Infragestellung der demokratischen Herrschaftsform: Es liegt auf der Hand, dass eine solche erhebliche Belastung der Staatshaushalte den Spielraum der Verfassungsorgane für gestaltende Eingriffe in die Wirtschaft empfindlich einschränkt – schon die Drohung mit diesem Instrumentarium dürfte aus der Sicht der interessierten Unternehmen eine „heilsame Wirkung“ entfalten.

Aber plädiert nicht inzwischen auch die deutsche Bundeskanzlerin für eine „marktkonforme“ Ausgestaltung der Demokratie?[12] Und der F. A. Z.-Herausgeber Schirrmacher brachte die Einstellung maßgeblicher Finanzmarkakteure angesichts der politischen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von „Sparprogrammen“ im überschuldeten EU-Staat Griechenland auf die sarkastische Formel: „Demokratie ist Ramsch“.[13]

In der Politikwissenschaft ist mittlerweile denn auch eine breite Debatte um die Frage entstanden, ob das parlamentarisch-demokratische Entscheidungssystem in den Staaten des Westens nicht inzwischen durch Strukturen der „Postdemokratie“ überlagert wird.[14] Colin Crouch, der diesen Begriff geprägt hat, konstatiert ein Weiterbestehen der überkommenen Institutionen der parlamentarischen Demokratie; im Schatten der politischen Inszenierungen von Wahlkämpfen, Parlamentsdebatten u. ä. werde jedoch, vereinfacht gesprochen, „die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“[15] Das Argument der „Alternativlosigkeit“, so die Kritik von Frank Nullmeier, habe Konjunktur. „Es entsteht eine Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten, weil die ökonomisch relevanten Entscheidungen in internationalen Aushandlungsprozessen zwischen den Regierungen, den Zentralbanken und dem globalen wie nationalen Finanzsektor getroffen werden.“[16]

Ein anschauliches Beispiel hierfür bildet die Art und Weise der Versuche, die anhaltende Finanzkrise von Teilen des Euro-Raums zu bewältigen. Weit reichende Entscheidungskompetenzen wurden auf Instanzen wie die Europäische Zentralbank oder die privatrechtlich organisierte „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“ übertragen, die kaum einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Das Urteil des Tübinger Staatsrechtlers Nettesheim über diese finanzpolitischen Praktiken mag zwar manchen EU-Euphorikern schrill in den Ohren klingen, lässt sich aber dennoch nicht von der Hand weisen: „Zentrale Merkmale demokratischer Verfassungsstaatlichkeit werden dadurch unterlaufen und gefährdet.“[17]

Vom homo sapiens socialis zum homo oeconomicus – was bleibt von der Menschenwürde?

Das Leitbild des homo oeconomicus begegnet uns inzwischen längst nicht mehr allein in den Führungsetagen der Wirtschaft oder in der Politik, sondern auch z. B. in den Hochschulen. Sie werden nicht nur selbst zunehmend nach dem Vorbild einer Aktiengesellschaft geführt, die ihre „Produkte“ im Wettbewerb mit anderen öffentlichen und privaten Konkurrenten anpreisen muss („Hochschulmarketing“)[18], sondern sie kultivieren – wenn auch noch nicht durchgängig – Entrepreneurship als Persönlichkeitsideal: Jeder akademisch Ausgebildete soll danach Unternehmer seiner selbst sein, sich erfolgreich gegenüber anderen Marktakteuren durchsetzen und auf diese Weise zu Wohlstand gelangen. Dies mag für viele Ansporn zu Leistung, Engagement und Kreativität sein. Allerdings wusste schon Friedrich A. von Hayek, bekanntlich ein Verfechter des freien Marktes, dass dieser keineswegs etwa dem Leistungsprinzip folgt – belohnt wird in der Marktwirtschaft allein der Markterfolg.[19] Dieser schlägt sich derzeit in einer höchst unterschiedlichen Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland nieder, was wiederum nicht den Unterschieden in der Leistungsbereitschaft der betreffenden Personenkreise geschuldet ist, sondern schlicht der „Durchsetzung von Machtentscheidungen“.[20]

Für viele, auch gut Ausgebildete, zeigt sich jedenfalls rasch die Kehrseite der Ökonomisierung nicht nur der Arbeitswelt, sondern inzwischen nahezu aller Lebensbereiche. Aus dem Blickwinkel der Ökonomie werden die Menschen schließlich nur als Konsumenten oder als möglichst flexible Arbeitskraft, als „Humanressource“ wahrgenommen. „Der Wert und die Verwendbarkeit der Menschen“, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, „ist an ihre Nützlichkeit, ihren Beitrag zu Produktivität, Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit gebunden; als Humankapital müssen sie billig, flexibel, ständig auf der Höhe der Zeit und rezyklierbar sein, als Person kommen sie nicht ins Blickfeld.“[21] Diese ernüchternden Feststellungen lesen sich geradezu wie eine Beschreibung der Arbeitsbedingungen in den Versandzentralen des Internethändlers Amazon, dürften aber auch auf viele andere Unternehmen zutreffen, die dem Druck der Renditemaximierung bei globaler Konkurrenz ausgesetzt sind.

Angesichts dieser alltäglich gewordenen Verhältnisse mag manchen der erste Satz des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar „ist“, als frommer Wunsch aus längst vergangenen Zeiten erscheinen. Tatsächlich kulminiert in dieser Formel mit ihrem verhaltenen Pathos die entschiedene Absage des Grundgesetzes an die Praktiken des NS-Regimes. Das bewusste Absetzen von dieser Unrechtsherrschaft war, so konstatierte das Bundesverfassungsgericht in seinem „Wunsiedel-Beschluss“ vom 4. November 2009 richtig, „historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte.“[22] Die ideengeschichtlichen Wurzeln des Begriffs der Menschenwürde reichen allerdings weit in die Vergangenheit zurück, so insbesondere zu Giovanni Pico della Mirandola, einem Denker der italienischen Renaissance, und insbesondere zum Aufklärer Immanuel Kant.[23] Im Jahre 1786 schrieb dieser in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“[24] – Dagegen beruht das Prinzip der weltweiten Marktwirtschaft gerade darauf, den Menschen und seine Bedürfnisse als Mittel zum Zweck der Gewinnerzielung zu behandeln. Für Mark Zuckerberg z. B. dürfte nicht der soziale Aspekt von Facebook im Vordergrund stehen, sondern die Einnahmen durch den Verkauf der persönlichen Daten, welche die inzwischen über eine Milliarde Nutzer des angeblich „sozialen“ Netzwerks hinterlassen.[25] Vermutlich durchschaut nur ein kleiner Teil von ihnen das zugrundeliegende „Geschäftsmodell“, sieht aber häufig ohnehin keine Alternative zur Beteiligung an Facebook, wenn man nicht von der Kommunikation mit seinen (körperlichen oder elektronischen) Freunden ausgeschlossen sein will.

In ihrer Untersuchung über „gierige Institutionen“ vergleicht die Berliner Sozialwissenschaftlerin Marianne Egger de Campo solche sozialen Netzwerke denn auch mit einer religiösen Sekte, „die keine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre duldet und durch die permanente öffentliche Bloßstellung letztlich die totale Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft symbolisiert.“[26] Sie kritisiert die „Zwangsvergesellschaftung“ der Nutzer_innen, „deren einzige relevante Rolle für die Internetgeschäfte die des Konsumenten oder ahnungslosen Datenlieferanten ist. Wir werden von der gierigen Institution des kommerzialisierten Web 2.0 verdinglicht, denn jede soziale Ausdrucksform in den Social Media wird dafür genutzt, Waren anzupreisen und zu verkaufen.“[27]

Und wieder: Kampf ums Recht

Der Text des Grundgesetzes verpflichtet nun die staatliche Gewalt, nicht nur die Menschenwürde „zu achten“, sondern diese auch „zu schützen“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 2). Schon aus diesen Formulierungen wird die Ambivalenz staatlichen Handelns deutlich: Die Staatsgewalt kann als Verletzerin der Menschenwürde sowie der anderen Grundrechte agieren[28], aber auch als ihre Beschützerin gegenüber mächtigen privaten Akteuren oder der Ausspähung durch ausländische Geheimdienste wie die NSA. In der Grundrechtsdogmatik hat sich hierfür der Begriff der Schutzpflicht des Staates eingebürgert[29] – darauf haben auch die drei Gutachter Papier, Hoffmann-Riem und Bäcker vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages eindringlich hingewiesen.[30]

Diese Ambivalenz ist freilich kennzeichnend für das gesamte Recht: Es kann als Instrument zur Absicherung von Herrschaft eingesetzt werden, aber auch als Medium zum Schutz der Schwächeren in der Gesellschaft.[31] Als Beispiele für die erstere Funktion seien hier das derzeitige die Unternehmen privilegierende[32] Steuerrecht, das Strafrecht sowie die Vielzahl weit reichender Überwachungsbefugnisse für Sicherheitsbehörden[33] genannt, während z. B. das Arbeitsrecht, das Mietrecht und nicht zuletzt auch das Datenschutzrecht vor allem die zweite Funktion erfüllen. Die insbesondere in den neunziger Jahren betriebene „Deregulierung“ hat fast ausschließlich diesen Schutzcharakter geschwächt[34], die herrschaftssichernden Elemente jedoch kaum betroffen, sondern eher noch verstärkt. Der „schlanke Staat“ ist also keineswegs gleichmäßig verschlankt worden, sondern nur als Sozialstaat.[35]

An den gegenwärtigen Debatten um eine schärfere Kontrolle der internationalen Finanzmärkte oder eine „internetgerechte“ Ausgestaltung des Datenschutzrechts wird die Schwierigkeit deutlich, einer entfesselten globalen Ökonomie wieder wirksame rechtliche Grenzen zu setzen. Kann dieses Ziel nur auf dem Wege einer Stärkung der Europäischen Union durch Vertiefung der Integration erreicht werden, um dem weltweiten Big Business besser Paroli bieten zu können?[36] Oder ist die Forderung nach einem „Rückbau der Währungsunion als eines gesellschaftlich rücksichtslosen technokratischen Modernisierungsprojekts“ und die Bewahrung der gesellschaftlichen Heterogenität in Europa die richtige Antwort?[37] Der Glaube an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ hat jedenfalls gewaltig an Überzeugungskraft verloren, und der Ruf nach einer wirksam regelnden Zentralinstanz, sei es jetzt der Nationalstaat oder die EU, ist aus dem Blickwinkel der sozial Schwächeren nur allzu berechtigt. Um noch einmal Böckenförde zu zitieren: „Es erfordert eine handlungs- und entscheidungsfähige Staatsgewalt, die über eine bloße Gewährleistungsfunktion für die Entfaltung des Wirtschaftssystems und ein Ausmitteln des Parallelogramms der Kräfte hinausgeht, vielmehr durch Begrenzung, Zielausrichtung und auch Zurückweisung wirtschaftlichen Machtstrebens ebenso wie durch stetige Relativierung sozialer Ungleichheit wirksam Gemeinwohlverantwortung wahrnimmt.“[38] Ein solches Einfordern des „starken Staates“ mag manchen als konservativ und etatistisch erscheinen. Als wirkliches „Herrschaftsinstrument des Volkes“[39] würde ein solcher Staat indessen nicht nur dem Demokratiegebot, sondern auch dem Sozialstaatspostulat unser Verfassung entsprechen.[40]

Vor diesem Hintergrund gilt es auch daran zu erinnern, welche Funktion dem Gesetz von den Wegbereitern der europäischen Aufklärung zugedacht war: Sowohl bei Kant[41] als auch bei Rousseau[42] können wir nachlesen, dass die Gesetze das Medium zur Verwirklichung der Volksherrschaft sein sollten. In den meisten der späteren Rechtstaatsdoktrinen in Deutschland ist die „Herrschaft des Gesetzes“ dagegen zum bloßen formalen Ordnungsprinzip ohne inhaltlichen Bezug zum Demokratiegebot herabgewürdigt worden.[43] Auf diese Weise wurden die fortschrittlichen Ideen der Aufklärung verschüttet; aber gerade dort ist anzuknüpfen. Um zu verhindern, dass Demokratie und Recht im Kielwasser einer enthemmten Weltökonomie untergehen oder zur bloßen Legitimationshülse degenerieren, ist freilich (erneute) Aufklärung und entsprechendes Engagement notwendig.

MARTIN KUTSCHA, Jahrgang 1948, ist Professor i. R. für Staats- und Verwaltungsrecht in Berlin und Vorstandsmitglied der Humanistischen Union. Zahlreiche Veröffentlichungen insbes. zu Grundrechts- und Verfassungsfragen, u. a. des Lehrbuchs „Verfassungsrecht konkret. Die Grundrechte“, 2. Aufl. Berlin 2011 (gemeinsam mit A. Fisahn) sowie „Grundrechtsschutz im Internet?“, Baden-Baden 2013 (gemeinsam mit S. Thomé).


[1] Nach „Berliner Zeitung“ v. 4. 3. 2014.

[2] Vgl. Wallach, TAFTA – die große Unterwerfung, Le Monde diplomatique, November 2013, S. 16.

[3] Bei der folgenden Darstellung handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines Beitrags des Autors in Busch/Kutscha (Hrsg.), Recht, Lehre und Ethik der öffentlichen Verwaltung, 2013, S. 35 ff.

[4] Nach „Berliner Zeitung“ v. 23./24. 3. 2013, S. 11.

[5] Vgl. Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie, Blätter f. dt. u. intern. Politik 4/2013, S. 29 (30); Kerkemeyer, Handeln ohne Grenzen, Forum Recht 2/2013, 37 (38 f.).

[6] Vgl. „Berliner Zeitung“ v. 19. 5. 2014.

[7] Dazu Reinhardt, Vattenfall vs. Deutschland (II) und das Internationale Investitionsregime in der Kritik, Kritische Justiz 1/2014, S. 86 ff.

[8] Friedrich Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 85 (Hervorhebung im Orig.).

[9] Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls von 1952, abgedruckt z. B. in Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, S. 1746.

[10] BVerfGE 58, 300 (336).

[11] Vgl. nur BVerfGE 68, 193 (222); Fisahn/Kutscha, Verfassungsrecht konkret. Die Grundrechte, 2. Aufl. 2011, S. 160.

[12] Ausführliches Zitat bei Wöhl, Die „Krise“ der repräsentativen Demokratie in Europa, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2013, 42 (45).

[13] F. A. Z. v. 2. 11. 2011.

[14] Vgl. nur die Beiträge von Mouffe u. a. in APuZ 1-2/2011 sowie Salomon, Demokratie, 2012, S. 115 ff. Durchaus berechtigt ist freilich die aus feministischer Perspektive gestellte Frage: „Hat es jemals in der Bundesrepublik – wie auch in anderen liberalen Demokratien – ein ‚Davor’, hat es also eine Konstellation gegeben, welche die Bezeichnung Demokratie – im Sinne von Selbstherrschaft, Selbstbestimmung und Autonomie aller Bürgerinnen und Bürger – verdient hätte?“ (Sauer, Die Allgegenwart der „Androkratie“: feministische Anmerkungen zur „Postdemokratie“, APuZ 1-2/2011, 32 [33]).

[15] Crouch, Postdemokratie, 2008, S. 10.

[16] Nullmeier, Transformationen demokratischer Staatlichkeit, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2013, 32 (39).

[17] Nettesheim, Verfassungsrecht und Politik in der Staatsschuldenkrise, NJW 2012, 1409.

[18] Zur Kritik im Einzelnen vgl. z. B. Knobloch, Wir sind doch nicht blöd! Die unternehmerische Hochschule, 2010; Kutscha, Freiheit der Wissenschaft  – ein bürgerlicher Mythos? Forum Wissenschaft 3/2011, S. 60 ff.

[19] V. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 245.

[20] Wehler, Die Explosion der Ungleichheit, Blätter f. dt. u. intern. Politik 4/2013, 47 (49).

[21] Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, in: Ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 13 (43). Als frappierendes Beispiel mag hier die zeitgemäße Verballhornung einer Zeile aus Goethes „Osterspaziergang“ dienen: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“, so das Werbemotto der DM-Drogeriekette.

[22] BVerfGE 124, 300 (328).

[23] Vgl. dazu im Einzelnen Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2. Aufl. 2010, S. 154 ff. u. 157 ff.

[24] Kant, Werke in 10 Bänden (Hg. Weischedel), Bd. 6, S. B 64.

[25] Hierzu auch Kutscha, Offene Fragen zum Überwachungs-GAU, vorgänge 204 (4/2013), 89 (92).

[26] Egger de Campo, Neue Medien – alte Greedy Institutions, Leviathan 1/2014, 7 (11).

[27] Egger de Campo a. a. O., S. 24.

[28] Höchstrichterlich entschiedene Beispiele hierfür: „Lauschangriff“ auf Wohnungen, BVerfGE 109, 279 und „Rettungsabschuss“ entführter Flugzeuge nach dem Luftsicherheitsgesetz, BVerfGE 115, 118.

[29] Vgl. im Einzelnen Kutscha/Thomé, Grundrechtsschutz im Internet? 2013, S. 46 ff.

[30] Vgl. „Berliner Zeitung“ v. 23. 5. 2014.

[31] Vgl. Brunkhorst, Düstere Aussichten – Die Zukunft der Demokratie in der Weltgesellschaft, Kritische Justiz 2010, 13 (15).

[32] Vgl. z. B. Liebert, Steuergerechtigkeit in der Globalisierung, 2011, S. 59 ff.

[33] Vgl. im Einzelnen Gustav-Heinemann-Initiative & Humanistische Union (Hg.), Graubuch Innere Sicherheit, 2009.

[34] Vgl. dazu nur die Beiträge in Butterwegge/Kutscha/Berghahn (Hrsg.), Herrschaft des Marktes – Abschied vom Staat? 1999.

[35] Dazu Kutscha, „Schlanker Staat“ mit Januskopf, Kritische Justiz 1998, 399.

[36] In diesem Sinne z. B. Habermas, Demokratie oder Kapitalismus? Blätter f. dt. u. intern. Politik 5/2013, 59 sowie Altvater, Der politische Euro, Blätter f. dt. u. intern. Politik 5/2013, 71.

[37] So Streeck, Was nun, Europa? Blätter f. dt. u. intern. Politik 4/2013, 57 (66 f.).

[38] Böckenförde, Woran der Kapitalismus krankt, in: Ders. (Anm. 21), S. 64 (71).

[39] So das Postulat von Dahn, Wir sind der Staat! 2013, S. 17.

[40] Vgl. dazu näher Kutscha, Erinnerung an den Sozialstaat, Blätter f. dt. u. intern. Politik 3/2006, 355.

[41] „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand Unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch Unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“ (Kant, Die Metaphysik der Sitten [1798] Werkausgabe Bd. 7, Hg. Weischedel, 1956, S. 432 – Hervorh. im Orig.).

[42] „Aber wenn das ganze Volk über das ganze Volk bestimmt, betrachtet es nur sich selbst, und wenn sich dann eine Beziehung bildet, bildet sie sich zwischen dem ganzen Gegenstand unter einem Gesichtspunkt und dem ganzen Gegenstand unter einem anderen Gesichtspunkt ohne irgendeine Teilung des Ganzen. Dann ist die Sache, über die man bestimmt, so allgemein wie der Wille, der bestimmt. Diesen Akt nenne ich ein Gesetz.“ (Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag [1762], Hg. Brockard, 1977, S. 40).

[43] Vgl. Maus, Entwicklung und Funktionswandel des bürgerlichen Rechtsstaats, in: Tohidipur (Hg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 1. Bd., 1978, S. 13 (18 ff.); Kutscha, Abschied vom Prinzip demokratischer Legalität? In: Becker-Schwarze u. a. (Hg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, 1991, S. 13 (15 f.).

Zuerst erschienen in den “Vorgängen” Nr. 205

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Thema: Arbeit & Wirtschaft, RechtInternational, Staat Demokratie BürgerInnenrechte

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