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Recht praktisch und allgemeinverständlich – Arthur Stadthagens Nachtrag „Das neue Unfallversicherungsgesetz“ aus dem Jahr 1900

Dienstag, 17. Januar 2012 | Autor: hfe | Diese Seite als PDF herunterladen

von Holger Czitrich-Stahl

Im Jahr 1895 veröffentlichte der Rechts- und Sozialexperte der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag, Arthur Stadthagen (1857-1917), seinen Rechtsratgeber „Das Arbeiterrecht“. Dieses Rechtshandbuch wurde zu einer beliebten und viel verkauften Handreichung für die Arbeiterschaft im deutschen Kaiserreich. (1) Allein die erste und die zweite Auflage verkauften sich insgesamt in 33.000 Exemplaren. (2) Der Verkaufspreis der beiden ersten Auflagen betrug erschwingliche 2,20 Mark, in gebundener Form 3 Mark, und war „für die weiteste Verbreitung in Arbeiterkreisen sehr billig bemessen“, wie Dr. Richard Freund in einer Rezension im „Archiv für öffentliches Recht“ 1897 konzedierte. (3) Bei aller politisch motivierten Kritik an Stadthagens Deutungen und Wertungen des geltenden Rechts – der „Verf. beschränkt sich nicht auf eine objektive Darstellung und Erläuterung…, sondern er will zugleich von seinem sozialdemokratischen Standpunkte aus auf die Arbeiter einwirken“ (4) – konnten ihm selbst seine Kritiker die praktische Brauchbarkeit seiner Ausführungen nicht absprechen.

Jedoch blieb der Wunsch des Rezensenten Richard Freund nach einem Ladenhüter unerfüllt: „Diese weite Verbreitung kann man aber dem Buche nicht wünschen, da es der sozialdemokratischen Propaganda dienen soll und wird.“ (5) Vielmehr ergaben die rechts- und sozialpolitischen Entwicklungen um die Jahrhundertwende im Gefolge des Inkrafttretens des BGB zum 1.1.1900 die Notwendigkeit weiterer Aktualisierungen und Erläuterungen, die Arthur Stadthagen einmal mehr mit Blick auf die Interessenlage der Arbeiterklasse und der anderen „kleinen Leute“ vornahm. Aus Anlass der 155. Wiederkehr seines Geburtstages am 23. Mai 1857 und seines 95. Todestages am 5. Dezember 1917 möchte ich an dieser Stelle einmal mehr an Stadthagens Wirken als Rechtslehrer und als „Anwalt der Armen“ erinnern. (6)

So verfasste Stadthagen im Jahr 1900 parallel zum Inkrafttreten des BGB und der Anpassungen der Sozialgesetze neben seinem weiteren Rechtsratgeber mit dem Titel  „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“ einen “Ersten Nachtrag zum Arbeiterrecht” mit folgenden Bestandteilen: „Das neue Unfallversicherungsgesetz (Gewerbe-, Bau-, See-Unfallversicherungsgesetz und Unfallversicherungsgesetz für Land- und Forstwirthschaft), Die Novelle zur Gewrebeordnung vom 30. Juni 1900 und Die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 30. Juni 1900.“ Dieser 110seitige Nachtrag erschien bei J.H.W. Dietz, dem Parteiverlag, in Stuttgart und konnte zum Preis von 75 Pfennig käuflich erworben werden. Der von Stadthagen ausgearbeitete Nachtrag wurde mit exakten Seitenangaben in die vorhergehenden Auflagen des “Arbeiterrechts” eingefügt beziehungsweise in die dritte Auflage eingearbeitet. So konnten sowohl Besitzer der ersten und zweiten Auflage als auch Erstkäufer der dritten Auflage preiswert profitieren . (7)

Nach einem Vorwort und einem alphabetischen Stichwortregister erläuterte Stadthagen anschließend die Grundsätze der Haftung bei Unfällen. Dabei griff er auf die römische Rechtsgeschichte zurück und belegte an ihr, dass nicht nur die ökonomischen, sondern auch die rechtlichen Verhältnisse stets kodifizierte  Resultate politischer und sozialer, also klassenkämpferischer Auseinandersetzungen sind. „Das Zwölftafelgesetz (im fünften Jahrhundert vor der jetzigen Zeitrechnung gegeben) legt Zeugnis davon ab, daß im alten Rom nach hartem Kampfe die Patrizier für verpflichtet erachtet wurden, für Körperverletzungen Schadenersatz zu leisten. Das Ermessen der patrizischen Richter deutelte an dem Zwölftafelgesetz ähnlich wie früher deutsche Richter an dem Haftpflichtgesetz so herum, daß es selten in Anwendung gerathen konnte. Die Rechtspraxis ging dahin,  nur für völlig zerbrochene Gliedmaßen (rupitia) des Plebejers sei Schadenersatz zu leisten. Ein Jahrhunderte langer Kampf wurde gegen diese das Gesetz einengende Worttüftelei geführt. Die lex Aquileia endlich anerkennt ausdrücklich, daß jede Körperverletzung, die böswillig oder fahrlässig zugefügt war, zu Schadenersatz verpflichtete“ (8)
Im Folgenden zog Stadthagen den Vergleich zum Stand des geltenden Rechtes im deutschen Kaiserreich  und bilanzierte: „Das moderne Rechtsbewußtsein drängt dahin, daß zum Mindesten ein Wohlhabender, der einen Schaden verursacht hat, den Verletzten für den von ihm verursachten Schaden zu haften habe. Man verlangt für alle Fälle eine Art ökonomisches Ausgleichungsprinzip. Darnach müßte auch bei dem Mangel eines Verschuldens oder einer Fahrlässigkeit dennoch eine Ersatzpflicht eintreten, wenn und soweit die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Verletzenden und des Verletzten, eine Schadenersatzpflicht zu erheischen.“ (9) Eine in diese Richtung gehende  Bestimmung der Zweiten Kommission zur Erarbeitung des BGB von 1896, in der Arthur Stadthagen und Karl Frohme als Vertreter der SPD-Reichstagsfraktion wirkten, wurde in der endgültigen Fassung durch den Bundesrat gestrichen, die Wiederaufnahme im Reichstag durch die Linksliberalen verhindert. Nur marginale Restbestände im § 829 BGB konnten gerettet werden. (10)

Was für das Zivilrecht allgemein notwendig war, durfte dem Gewerberecht im Besonderen nicht fremd bleiben, folgerte Stadthagen weiter. „Jedes Gewerbe muß seine Produktionskosten selbst tragen. Ist das Gewerbe mit Gefahren verknüpft, so versteht sich von selbst, daß diese Gefahr denjenigen treffen muß, der den Unternehmergewinn hat , nicht den, dessen Arbeitskraft durch die gewerbliche Gefahr beeinträchtigt ist. Wer den Nutzen hat, hat auch das Risiko zu tragen. Das ist ein uralter, in der Natur des Privateigenthums begründeter Rechtssatz. Diesen Rechtssatz dem Arbeiter, dessen Arbeitskraft geschädigt wird, gegenüber außer Kraft setzen, heißt ein zivilrechtliches Ausnahmegesetz zu Gunsten des Unternehmers und zu Ungunsten des Arbeiters schaffen.“ (11) Da der Unternehmer selbstverständlich für Beschädigungen der Produktions- und Arbeitsmittel aufkommt, wäre es selbstverständlich, auch für  die im Betrieb erlittenen Schädigungen des Arbeiters zu haften, so Stadthagen. Mit Blick auf Debatten über das Gesundheitswesen der Gegenwart kann nicht häufig genug daran erinnert werden, dass der Verweis auf ein ausschließliches oder individuelles Verursacherprinzip vor allem Kosten- und Lastenminimierung für Unternehmen und Versicherungen bedeutet und mithin eine Rückkehr zu den Wolfsgesetzen der „freien Marktwirtschaft“.

Im Falle der reformierten Unfallversicherungsgesetzgebung, die aus einem Mantelgesetz und vier Anlagen bestand (12), kam Stadthagen nach anfänglicher Darlegung der Bedingungen ihres Inkrafttretens und der entsprechenden Übergangsvorschriften inhaltlich zu dem Fazit, dass es sich bei den gesetzlich bestimmtem Berufsgenossenschaften mehr „um eine Versicherung der Arbeitgeber“ handele. Dennoch blieben für die Arbeiter auch Vorteile zu verbuchen, wenn etwa die Schadenersatzpflicht des Unternehmers auch dann gelte, wenn dieser sämtliche notwendigen Vorkehrungen zur Unfallvermeidung getroffen habe.  Der Anspruch des Arbeiters auf eine entsprechende Unfallrente entfiele nur im Falle eines vorsätzlich von ihm verursachten Schadens. Somit waren schlimmste Formen der Willkür im Betrieb gemildert. Dennoch seien die durch Arbeitsunfälle etc. geschädigten Arbeiter „bei Weitem schlechter gestellt als ein außerhalb des Betriebes Verunglückter, z. B. ein durch denselben Unfall verunglückter Zuschauer.“ Stadthagen führte dieses Ungleichgewicht auf den Umstand zurück, dass die Mehrheit im Parlament die Grundgedanken einer Unfallgesetzgebung und der ihr entwachsenen Haftungspflicht nicht in einer der kapitalistischen Wirtschaftsweise inhärenten Unternehmerverantwortung sähe, sondern lediglich in einer Fortentwicklung der Armenpflege. (13) Blickt man auf die Fortentwicklung der Sozialgesetzgebung in unserem Lande seit der Amtszeit der Regierung Schröder, so muss man eigentlich zum selben Schlusse gelangen. Arthur Stadthagen jedenfalls würde sicherlich zu den schärfsten Kritikern der Agenda 2010, der Rente mit 67 und der Hartz-Gesetze gehören.
Im Weiteren legte er dar, auf welche Beschäftigten welcher Betriebe sich die Versicherungspflicht erstreckte (S. 9-16), wann ein versicherungspflichtiger Unfall vorlag (S. 16-23) und welche Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruches eines Arbeiters oder der Hinterbliebenen gegeben waren (S. 23-26). Es folgten Ausführungen über die Ansprüche des Verletzten je nach Dauer und Schwere der Arbeitsunfähigkeit  (S. 26-30) und über die Bedingungen freier ärztlicher Behandlung (S. 30-37). In jedem dieser Kapitel führte Stadthagen zahlreiche Fälle an, die dem Arbeiter das richtige Verhalten nahelegen und ihn vor dem Verlust seiner Ansprüche bewahren sollten. Zusätzlich gab er den Lesern wichtige Hinweise auf die ihnen zustehenden Heil- und Hilfsmittel. Außerdem erläuterte er an der Frage, ob das Gesetz pauschale Entschädigungssätze für bestimmte Verletzungen und Erwerbsminderungsfälle vorsähe, das Prinzip der Einzelfallbetrachtung, das er mit Blick auf die Individualität des Geschädigten positiv hervorhob. (14) Schon damals sei das Denken in Fallpauschalen ein „Köhlerglaube“ gewesen, so Stadthagen, als er urteilte: „Soweit es auf den Grad der Erwerbsunfähigkeit ankommt, wird weit mehr als das Gutachten ders Arztes…das sachverständige Gutachten von Berufskollegen, sowie von Arbeitern und Arbeitgebern aus anderen Berufen von Erheblichkeit sein. Insbesondere dürfte darauf Gewicht zu legen sein, daß Arbeiter und Arbeitgeber aus den Berufen vernommen werden, in denen vermeintlich der Verletzte noch etwas verdienen kann. Nach alledem wird sich die häufig von Verletzten gestellte Frage „wieviel Prozent stehen mir zu?“ schlechterdings nur muthmaßlich beantworten lassen.“ (15) Im Folgenden legte Stadthagen nun die Grundsätze für die Bemessung der dem Geschädigten zustehenden Rente dar und wies den Leser darauf hin, dass ein Berufswechsel mit höheren Einkünften keinesfalls eine Rentenminderung aus dem Schadensfall bedingen könne. Somit sorgte er für Rechtssicherheit im Interesse der „kleinen Leute“ und ihrer jeweiligen Fälle und Probleme. (S. 42) Dies galt nicht minder für die Hinterbliebene der Opfer auf dem „Schlachtfeld der Arbeit“, denen er exakt an Rechenbeispielen ihre Gesetzesansprüche darlegte und ihre Anspruchsgegner benannte. (S. 48ff) Anschließend erklärte Stadthagen dem Leser die Grundstruktur des Versicherungswesens mitsamt der Aufgaben der Schiedsgerichte, des Reichsversicherungsamtes und der nachgeordneten Behörden. (S. 58ff) Auf den Seiten 94-98 gab er dem Leser in bewährter Weise Musterformulare an die Hand, mit denen der Antragsteller seinen Fall anzeigen und vorbringen konnte. Dabei bezog er mögliche Verlaufsfälle in seine Handreichungen ein, wie die nachstehenden Beispiele dokumentieren sollen. (S. 94ff)

„ Anträge aus einem Unfall auf Hinterbliebenenrente (s. S. 49)
Nr. 1                  Antrag der Mutter

An den Vorstand der Nordöstlichen Baugewerksberufsgenossenschaft zu Berlin
Am 1. September 1900 verunglückte mein Sohn, der Maurer Rudolf Nähring,  auf dem Bau des Bauunternehmers Hals zu Berlin. In Folge des Unfalls ist er verstorben. Hierüber nehme ich auf Zeugniß des Bauunternehmers Hals Bezug. Mein verstorbener Sohn war beinahe mein einziger Ernährer, wie der Gemeindevorstand zu Hermsdorf bestätigen wird. Ich beantrage, mir die Unfallrente vom 1. September 1900 an zuzusprechen.
Hermsdorf, den 10. September 1900.                                 Witwe Adele Nähring“

Es folgte ein entsprechender Musterantrag für die Witwe mit ihren drei Kindern, so dass alle Hinterbliebenen gleichgelagerter Unglücksfälle beraten waren. Dass Stadthagen den Ort Hermsdorf einbezog war kein Zufall; der heutige Ortsteil des Berliner Bezirkes Reinickendorf befand sich in seinem Reichstagswahlkreis.

Weiterhin fanden sich Musteranträge zur Anzeige einer Erwerbsminderung, einige Mustereinspruchsbriefe, Berufungsschreiben gegen die Anweisung, sich ins Krankenhaus zu begeben und Anträge auf Auszahlung der Rente bei Wohnortwechsel in diesem Kapitel, das den Antragstellern eine schnelle Beratung und Hilfe anbot.
Auf den nächsten Seiten fand der aufmerksame Leser  Verzeichnisse der gewerblichen Berufsgenossenschaften (S. 99) und  der land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossen-schaften (S. 100).

Die verbleibenden Seiten waren kurzen Abhandlungen über Gewerbeordnungsnovelle vom 30. Juni 1900 (S. 101-108) und der Novelle vom 30. Juni 1900 zum Krankenversicherungsgesetz (S. 109f) vorbehalten. Bei der Gewerbeordnungsnovelle legte Stadthagen vor allem die geänderten Bedingungen der Beschäftigung von Jugendlichen und Minderjährigen sowie die Einführung von Lohnbüchern und Arbeitszetteln dar. Gleichermaßen erhielt der Leser Informationen über Arbeitsschutz, Arbeits- und Pausenzeiten sowie über Kündigungs- und Schutzbestimmungen für Handlungsgehilfen. Die Krankenversicherungsgesetznovelle erläuterte Stadthagen insbesondere in ihren neuen Bestimmungen für Beschäftigte in der Hausindustrie, die seinerzeit noch eine gewisse Bedeutung besaß.

Insgesamt folgte Arthur Stadthagen seiner bewährten Vorgehensweise. Nach wenigen prinzipiellen marxistischen Bemerkungen über die von ihm betrachteten und bewerteten Rechtsbestimmungen fasste er diese vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres praktischen Nutzens für die Arbeiter und die „kleinen Leute“ zusammen und versah sie mit detaillierten Handreichungen und Mustertexten, denen faktisch nur noch der eigene Name beigefügt werden musste. Unter dem Blickwinkel der Rechtshilfe für die Unterprivilegierten waren diese Publikationen Stadthagens sicherlich sozial- und rechtspolitische Pionierarbeit.
Vielleicht wäre es für die heutige Zeit angemessener, anstatt zwielichtiger Steuerersparnislektüre für Bessergestellte oder solche, die sich dafür halten, transparente und handhabbare Rechtshilfen für die Probleme der Normalbürger zu entwickeln und zu verbreiten. In diesem Sinne gilt es noch einiges von Arthur Stadthagen und seinem Wirken zu lernen.

Anmerkungen:
1) Arthur Stadthagen, Das Arbeiterrecht, Berlin 1895. Es wurde 1896 ein zweites Mal aufgelegt und
erlebte 1900 und 1904 in aktualisierter und erweiterter Form eine dritte und vierte Auflage
2) ders., Das Arbeiterrecht, Vorwort zur dritten Auflage, Stuttgart 1900, S. III
3) Dr. Richard Freund, Rezension „Das Arbeiterrecht“, Archiv für öffentliches Recht,
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PPN=GDZPPN000219169, Zugriff am 10. Januar
2012, S. 291
4) Ebd.
5) Ebd., S. 291f
6) Siehe meine Biographie: Holger Czitrich-Stahl, Arthur Stadthagen – Anwalt der Armen und
Rechtslehrer der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main u.a. 2011
7) Arthur Stadthagen, Erster Nachtrag zum Arbeiterrecht, Stuttgart 1900. Siehe auch Das
Arbeiterrecht (3.), Anm. 2. Siehe auch Stadthagen, Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch,
Stuttgart 1900
8.) Stadthagen, Nachtrag, S. 1. Zum lex Aquileia bzw.lex Aquilia siehe der Einfachheit halber
http://de.wikipedia.org/wiki/Lex_Aquilia, Zugriff vom 11. Januar 2011
9) Stadthagen, Nachtrag, S. 2
10) Ebd.
11) Ebd.
12) Ebd., S. 6
13) Ebd., S. 8f
14) Ebd., S. 40
15) Ebd., S. 41

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Thema: Historisches

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